von Cora Graßhoff und Benjamin Koch
Einleitung – Die Zukunft ist auch nicht mehr das, was sie einmal war
Statistisch ist er längst bewiesen, in den Köpfen von Unternehmern und Personalern jedoch noch nicht immer angekommen. Der demografische Wandel hängt über unserer Gesellschaft wie ein Damoklesschwert. Natürlich sind nicht alle wirtschaftlichen Branchen gleichermaßen davon betroffen. Ab 2015 rechnet die Industrie- und Handelskammer Erfurt sogar mit einem Überschuss an Fachkräften im Baugewerbe und der Industrie. Jedoch kommt es in Thüringen zu einem enormen Mangel an jungem, gut ausgebildetem Personal im Dienstleistungsgewerbe und sonstigen Wirtschaftszweigen.[1] Andere Bundesländer sind noch weitaus stärker betroffen. In Bayern und Badem-Württemberg beklagen schon jetzt 40% aller Betriebe (branchenübergreifend) den Fachkräftemangel. [2]
Das Statistische Bundesamt hat berechnet, dass unsere Bevölkerung bis zum Jahr 2050 um 7 Millionen Menschen auf 75 Millionen schrumpfen wird[3]. Wirtschaft und Wohlstand sind in Gefahr, doch ernst zu nehmende Handlungsschritte wurden bislang kaum eingeleitet. Häufig werden die Optimierung der Ausbildung von jungen Menschen oder das Fachkräfterecruiting im Ausland als Lösungsalternativen betrachtet. Dieser Artikel soll den Fokus auf die Personengruppe legen, die in Zukunft immer mehr an Relevanz gewinnen wird – ältere Menschen, die noch voll im Berufsleben stehen und dazu noch im Schichtbetrieb arbeiten.
Im Vordergrund steht dabei die ergonomische Gestaltung von Schichtplänen, eine Methode, die vor allem auch in kleineren und mittelständischen Unternehmen zum Einsatz kommen kann. Diese Methode soll im Folgenden zuerst genauer erläutert werden, bevor dann die Schilderung spezifische Vorteile im Hinblick auf die veränderte Altersstruktur in Unternehmen erfolgt. Durch ein Praxisbeispiel soll der wirtschaftliche und personale Erfolg verdeutlicht werden, bevor es zu einem abschließenden Fazit kommt.
Ergonomische Schichtplangestaltung – Übereinkunft von Individuum und Wirtschaftlichkeit
15,6% aller Arbeitnehmer in Deutschland arbeiten in Schichten, d.h. auch verstärkt am Wochenende und zu Zeiten, die dem natürlichen Tages-Nacht-Rhythmus des Menschen widersprechen. Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAUA) beobachtet diese Entwicklung mit großer Sorge. “Wer nachts und am Wochenende arbeitet, trägt ein erhöhtes gesundheitliches Risiko”, sagt Frank Brenscheidt von BAUA[4]. Die Schäden sind vor allem gesundheitlicher Art, es kommt zu Übermüdung, Schlaf- und Verdauungsstörungen. Durch einen aus dem Gleichgewicht gebrachten Hormonhaushalt steigt zudem drastisch das Risiko für Prostata- und Brustkrebs[5]. Doch auch die Psyche und das Sozialleben leiden. Erhöhte Nervosität und Reizbarkeit stellen die Geduld von Familie und Freunden auf die Probe und auch zeitlich lassen sich seltener gemeinsame Freiräume schaffen. Durch die so entstehende Überbeanspruchung kommt es zu längeren Fehlzeiten, erhöhtem Krankenstand und mangelnder Konzentrationsfähigkeit während der Arbeit. Dies hat natürlich Einfluss auf die Produktivität. Auf der anderen Seite ist die Arbeit in Schichtbetrieben ein wichtiger Garant für unseren wirtschaftlichen Erfolg. Erweiterte Betriebszeiten führen zu einer immensen Senkung der Produktionskosten und ermöglichen zeitgleich eine Steigerung der Produktionsmenge und somit des Umsatzes. Nur so sind Investitionen und langfristig gesehen auch Innovationen möglich. Deswegen lassen sich die Vor- und Nachteile der Schichtarbeit nur schwer gegeneinander aufwiegen. Weder das Individuum, noch der gesamtgesellschaftliche Erfolg sollten aus den Augen verloren werden. Die Arbeit mit einem ergonomischen Schichtplansystem fungiert an dieser Stelle als Kompromiss und berücksichtigt Aspekte beider Sichtweisen. Gesundheit und Leistungsfähigkeit eines jeden Arbeiters können erhöht werden. Die oben beschriebenen Nachteile von Schichtarbeit nehmen deutlich ab. Doch wie sieht ein ergonomischer Schichtplan überhaupt aus? Hier ist der Einsatz von 4 oder 5 Schichtgruppen gemeint, die an mindestens 5 Tagen in einem Unternehmen arbeiten. Die praktische Anwendung wurde bereits in vollkontinuierlichen (Montag bis Sonntag, mit Nachtarbeit) und teilkontinuierlichen (Montag bis Freitag bzw. Samstag, mit Nachtarbeit) erprobt und als äußerst positiv bewertet.
Im Folgenden sollen einige Kriterien ergonomischer Schichtpläne aufgeführt werden[6]. Diese dienen jedoch ausdrücklich nur als Anreize und mögliche Ansatzpunkte, können sie doch niemals alle vereint bei der Schichtplanung berücksichtigt werden. Des Weiteren sollten immer die aktuelle Lage und generelle Beschaffenheit des Unternehmens und die persönlichen Wünsche der Mitarbeiter berücksichtigt werden.
1.)Nicht mehr als 2 Nachtschichten sollten aufeinander folgen.
2.)Nach einer Nachtschichtphase sollte nach Möglichkeit eine Freizeitpause von 24 Stunden gewährleistet werden.
3.)Ein Freizeitblock am Wochenende sollte gegenüber einzelnen freien Tagen bevorzugt werden.
4.)Entsteht z.B. durch eine verlängerte Nachschichtphase eine Mehrbelastung, sollte diese nicht durch Schichtzuschläge, sondern vielmehr durch vermehrte Freizeit ausgeglichen werden.
5.)Vorwärtsrotierende Schichtsysteme (Frühschicht à Spätschicht à Nachtschicht)
6.)Die Frühschicht sollte nicht zu früh beginnen. Bei der Planung sollten auch die Anfahrtszeiten der Mitarbeiter beachtet werden.
7.)Die Nachtschicht sollte so früh wie möglich beginnen, damit sie auch so früh wie möglich endet. So wird der weniger erholsame Tagschlaf z.T. umgangen.
8.)Die Arbeitszeit sollte bei Schichtarbeit niemals 8 Stunden überschreiten.
9.)Die Schichtphasen sollten an die auszuführende Tätigkeit angepasst sein. Bei körperlich sehr fordernder Arbeit sollte die Nachtarbeit auf ein Minimum beschränkt werden.
10.)Um die Planung des außerberuflichen Lebens zu vereinfachen sollten Schichtpläne stets vorhersehbar und überschaubar gestaltet werden.
Dieses Beispiel soll die Anwendung der genannten Kriterien zumindest im Ansatz widerspiegeln:
Quelle: Ergonomische Schichtpläne von F. Lennings, aus: angewandte Arbeitswissenschaften. 2004. Nr. 180. S. 33-51
Doch welche Vorteile birgt das hier beschriebene System im Umgang mit den Anforderungen des demografischen Wandels?
Ältere Menschen in Schichtarbeit – „Die demografische Entwicklung treibt die ergonomische an“[7]
Ergonomische Zeitpläne dienen der Verringerung der nächtlichen Arbeitszeit, der Bereitstellung von ausreichender Erhol- bzw. Schlafzeit und der Sicherung sozial wertvoller Freizeit[8]. Diese Gesichtspunkte spielen mit zunehmendem Alter eine immer größere Rolle. Die körperlichen Ressourcen nehmen immer weiter ab, so dass eine physische Entlastung am Arbeitsplatz angestrebt werden sollte. Das Entgegenstehen von natürlichem menschlichen Rhythmus und Nachtarbeit stellt schon für junge Menschen eine enorme körperliche Belastung dar, der keinesfalls über einen längeren Zeitraum standgehalten werden kann. Ältere Menschen sollten deshalb besonders selten und nur kurzzeitig in Nachtschicht arbeiten. Das Risiko für Bluthochdruck, Diabetes und Magen-Darm- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen ist bei ihnen besonders hoch[9]. Sie können sich weniger gut an den veränderten Schlaf-Wach-Rhythmus anpassen und entwickeln dadurch häufiger Schlafstörungen[10]. Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass ältere Arbeitnehmer umso öfter berufsunfähig werden, umso länger sie in Schichtarbeit gearbeitet haben[11]. Auch familiäre Verpflichtungen, wie die Betreuung der dritten Generation, können durch ergonomische Schichtpläne besser wahrgenommen werden.
Um ältere Menschen grundsätzlich von Nachtarbeit zu befreien und sie so noch besser im Schichtbetrieb einsetzbar zu machen, können auch Schichtsysteme entwickelt werden, in denen beispielsweise eine bestimmte Gruppe von Mitarbeitern nur im Früh-Spät-Schicht-System arbeitet. Alle anderen Gruppen arbeiten in einem 3-Schicht-System und wechseln sich bei der Übernahme der Nachtschicht entsprechend ab. Ältere Arbeitnehmer könnten bevorzugt der erstgenannten Gruppe zugeordnet werden, wohingegen jüngere leichter auch in 3 Schichten arbeiten können. Natürlich sollten auch an dieser Stelle die Präferenzen jedes Einzelnen beachtet werden. So gibt es Menschen, die einen etwas längeren Tagesrhythmus haben (25 Stunden) und frühe Chronotypen genannt werden, andere haben dagegen einen verkürzten Rhythmus (23 Stunden). Dies sind die späten Chronotypen. Grund für diese Unterscheidung ist eine genetische Prädisposition. Frühe Chronotypen sollten nach Möglichkeit nicht im Nachtschichtbetrieb arbeiten[12]. Späte Chronotypen haben dagegen weniger Probleme mit Nachtarbeit, bevorzugen diese sogar manchmal. Eine entsprechende Aufteilung der Mitarbeiter in die Schichtgruppen ist also auch an dieser Stelle außerordentlich effektiv.
Praxisbeispiel: Rasselstein GmbH[13]
Die Rasselstein GmbH ist einer der drei größten Weißblechhersteller in Europa. Das Unternehmen stellte bereits 1992 mit Hilfe des Institutes für Industriebetriebslehre und industrielle Produktion der Universität Karlsruhe auf einen ergonomischen Schichtplan mit kurzen Wechseln um. Der neue Schichtplan ist bereits exemplarisch weiter oben in der Abbildung zu sehen. Im Zuge dieser Umstrukturierung wurden die Mitarbeiter aus ursprünglich 3 Schichtgruppen auf 4 aufgeteilt. Durch die Schaffung einer zusätzlichen Gruppe und die Möglichkeit, zu Hochzeiten durch Anhängen einer Sonntagsschicht in den vollkontinuierlichen Betrieb zu wechseln, kann der Betrieb seitdem flexibler auf die momentane Auftragslage reagieren.
Obwohl der Plan viele der oben genannten Kriterien erfüllt, standen die Mitarbeiter der Umstellung zunächst äußerst skeptisch gegenüber. Dies lag v.a. an den kurzen Schichtwechseln. Um die Skepsis zu mindern, wurde der neue Plan zuerst über ein Jahr in verschiedenen Pilotbereichen mit insgesamt 120 Mitarbeitern durchgeführt. Nach der Pilotphase stimmten alle Beteiligten einer Fortführung des neuen Systems zu. Besonders stark wurden Verbesserungen bei den Teilnahmemöglichkeiten am sozialen und familiären Leben wahrgenommen.
Anschließend fanden weitere Modifikationen statt, wie z.B. die dauerhafte Umstellung auf einen vollkontinuierlichen Schichtbetrieb. Betriebs- und personalwirtschaftliche Kennzahlen konnten durch die Maßnahmen deutlich verbessert werden. Die Anzahl an erforderlichen Lohnstunden für die Produktion einer Tonne Weißblech verringerte sich drastisch um 21%, was den Zuwachs an Produktivität widerspiegelt. Die krankheitsbedingten Fehlzeiten liegen 4% unter dem Branchendurchschnitt und auch die Zahl der meldepflichtigen Arbeitsunfälle ging stark zurück (um 33% von 1995/1996 bis 2002/2003). Trotz der anfänglichen Schwierigkeiten und des erhöhten Planungsaufwandes ist die Umstellung auf einen ergonomischen Schichtplan ein strategischer Schritt, der von Beteiligten im Unternehmen positiv aufgefasst wurde.
Fazit–Ergonomische Schichtpläne für alle, die einfach alles wollen
Sicher gibt es viele Möglichkeiten in einem Unternehmen mit dem demografischen Wandel umzugehen. Einer der wichtigsten Ansatzpunkte ist die Entlastung und die damit verbundene längere Einbindung älterer Arbeitnehmer in den Betrieb. Dies kann z.B. durch die in diesem Artikel beschriebenen ergonomischen Schichtpläne erfolgen. Zwar fordern diese zunächst etwas Planungs- und Entwicklungszeit ein, bereichern das Unternehmen aber schnell mit zufriedeneren, gesünderen und somit leistungsfähigeren Mitarbeitern und erhöhen so die Produktivität und Wirtschaftlichkeit.
Ergonomisch planen, arbeiten und produzieren – ökonomische Erfolge sehen!
Autoren:
Benjamin Koch ist Senior Consultant für den Bereich Organisationsentwicklung bei der Mittelstandsberatung Clockwise Consulting GmbH. Seine Beratungsschwerpunkte liegen im Bereich strategische Personalentwicklung und Leistungsbewertung. Er lehrt seit 2011 an der Fachhochschule Jena das Fach „Personalführung für Wirtschaftsingenieure“. Als Geschäftsführer der HR & Sport Consulting ist er als sportpsychologischer Berater und Business Coach tätig.
Cora Graßhoff ist Visiting Associate bei der Clockwise Consulting GmbH. Als Vorsitzende der studentischen Unternehmensberatung p:act koordiniert sie Assessment-Center-Trainings für Studierende.
[1] http://www.fachkraeftemonitor-thueringen.de/fkm/index.php?code=ahaaahahbaba (Stand Januar 2012)
[6] entnommen aus „Gesund bleiben mit Schichtarbeit“ – Veröffentlichungen zum Betrieblichen Gesundheits-management der TK, Band 9, 2005 – ISSN 1610-8450
[7] Zitat von Klaus-Dieter Wendt (Sicherheitsingenieur bei Continental) http://www.wertarbeiter.com/artikel/items/Die_demografische_Entwicklung_treibt_die_ergonomische_an
[8]http://www.ergo-online.de/site.aspx?url=html/arbeitsorganisation/pausen/checkliste_schlichtplan.htm
[9] Aus: Leitlinien Nacht- und Schichtarbeit der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin e.V.
[10] aus: Nacht- und Schichtarbeit –ein Problem der Vergangenheit? von Dr. Beate Beermann (BAUA)
[13]aus: Ergonomische Schichtpläne von F. Lennings, aus: angewandte Arbeitswissenschaften. 2004. Nr. 180. S. 33-51